Freitag, Dezember 27

Kennen Sie den gleichnamigen Song von Tim Benzko? «Muss nur noch kurz die Welt retten, noch 148 Mails checken» lautet eine Textzeile. Nein? Sollten Sie sich mal anhören, auf YouTube zum Beispiel.

E-Mails sind aus unserem Alltag nicht mehr wegzudenken. Je nach Berufsgattung dominieren sie unsere tägliche Arbeit regelrecht. Gemäss einem vom Statista veröffentlichten Bericht wird sich die Anzahl der täglich versendeten und empfangenen E-Mails im Jahr 2024 weltweit auf 361.6 Milliarden belaufen. Bis zum Jahr 2026 sollen es deren 392.5 Milliarden sein. Auf die E-mailende Bevölkerung heruntergebrochen sind das durchschnittlich gegen 50 E-Mails pro Person und Tag. Da überrascht es kaum, dass das Checken und Beantworten von E-Mails einen grossen Anteil unserer produktiven Lebenszeit verschlingt. Oft bleibt kaum mehr Zeit für wirklich Wichtiges, zum Beispiel persönliche Gespräche und Beziehungspflege, Coaching und Führung, ausreichend Schlaf und Bewegung, Nachdenken und Zusammenhänge herstellen, Innovationen vorantreiben und so weiter. Denn das Credo lautet, mit dem Beantworten der unaufhörlich eintreffenden E-Mails immer à jour zu sein. Andernfalls droht unsere Welt scheinbar unterzugehen. Wer sich diesem Diktat nicht beugt, wird von der Community geächtet oder steht zumindest unter Verdacht, unfähig oder altmodisch zu sein. Wer will sich schon diese Blösse geben?

Nicht von ungefähr titelte die WELT schon im Jahr 2010: «E-Mails sind die Plage unserer Zivilisation». Wie jetzt? Die E-Mail als Teufelszeug? Nein, bitte nicht falsch verstehen. E-Mails sind superpraktisch und erleichtern die Kommunikation in vielen Bereichen ungemein. Und für sich genommen ist keine der Mails wirklich schlimm. In ihrer Gesamtheit sind sie es aber schon. Warum? Detlev Nutzinger, Professor für Psychosomatik an der Universität Lübeck, erklärt: «Ein Grundproblem vieler Leistungsträger ist, dass sie schon von ihrer inneren Veranlagung her immer für alles und jeden erreichbar sein wollen. Technische Errungenschaften wie Smartphones können diese Disposition pathologisch verstärken.» Er muss es wissen. Immerhin hat er schon viele Burn-out-Patienten behandelt, denen das Smartphone respektive die Mailbox zum Ein und Alles geworden war. Also ist nicht die E-Mail Schuld an der sogenannten «elften Plage der Menschheit», sondern wir selbst.

Tönt alles sehr einleuchtend, das Problem ist damit allerdings nicht gelöst. Was ist also zu tun? Darüber, wie man es vermeidet, in die E-Mail-Falle zu geraten oder wie man wieder aus ihr herauskommt, wurden schon unzählige Ratgeber geschrieben. Es gibt sogar spezialisierte E-Mail-Coaches, die Managern den sinnvollen Umgang mit E-Mails beibringen. So schwierig ist es offenbar, dieses Phänomen in den Griff zu bekommen. Deshalb will ich gar nicht erst den Versuch unternehmen, Ratschläge zu erteilen. Vielleicht hilft es jedoch, sich bewusst zu machen, was nicht zu tun ist. Auf keinen Fall dem Irrglauben erliegen, dass die Welt – oder im konkreten Fall die Unternehmung – durch eine eiserne E-Mail-Beantwortungsdisziplin zu retten ist. Und sicher nicht wichtige Aktivitäten zurückstellen, nur damit die Mailbox clean ist, das ist sie in den meisten Fällen ohnehin nie länger als fünf Minuten. Es gilt einmal mehr, eine technische Errungenschaft nicht durch exzessive oder falsche Nutzung vom Segen zum Fluch werden zu lassen.

Aber zurück zum eingangs erwähnten Song. Hand aufs Herz: Wäre es nicht schön, irgendwie doch zur Rettung der Welt beitragen zu können? Hier mein ganz persönlicher Tipp an meine Berufskollegen da draussen: Wenn wir schon die Welt retten wollen, schliessen wir doch öfter mal die Mailbox und retten sie dort, wo das echte Leben stattfindet – nämlich bei Familie und Freunden. Und was ist mit den unbeantworteten E-Mails? Die sind am nächsten Tag noch da. Versprochen!

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